Freitag, 28. Januar 2011

Ich bin 6 Jahre alt – jung & hilflos, voller Trauer & Angst. Verängstigt & voller Scham sitze ich in der Ecke meines Zimmers, rolle mich zusammen. Keiner darf mich sehen. Mein kleiner Bruder sitzt neben mir. Ich habe Angst. Ich suche nach seiner Hand, fasse sie & drücke sie ganz doll. Zu doll.. Aber ich will ihm doch nicht wehtun ..  Es tut ihm weh, doch er zieht die Hand nicht weg, er geht nicht – er will mich nicht alleine lassen. Er ist klein, gerade 4 geworden. Er ist ernst, schweigsam .. traurig. Er kann nichts machen, ich auch nicht. Er schaut mich an, hilflos .. verzweifelt. Meine Augen werden feucht & eine Träne läuft mir über die Wange. 'Nicht weinen', sagt er mit feuchten Augen. Auch ihm laufen jetzt die Tränen aus den Augen über sein kleines Gesicht. Ich kann ihm nicht helfen. Ich bin hilflos, machtlos – zu klein. Ich höre, dass nebenan die Wohnungstür aufgeht. Papa kommt von der Arbeit nach Hause. Ich habe Angst, bekomme Panik. Ich drücke die Hand meines Bruders fester. Ich will ihm nicht wehtun. Ich lockere meinen Griff. 'Bitte nicht, bitte nicht!', geht es mir durch den Kopf. Aber es ist sinnlos. Es wird passieren, so wie es jeden Tag passiert. Ich höre seine Schritte. Höre sie hier her kommen. Die Türklinke bewegt sich. Er drückt sie herunter. Langsam öffnet er die Tür. Schaut herein. 2 Schritte, dann steht er im Raum. Verängstigt schaue ich zu meinem Bruder, dann zu Papa. 'Komm mein Engelchen, komm zu Papa', flüstert er mit sanfter Stimme. Er läuft zu mir. Hierher. In die Ecke. Er beugt sich nach vorn, zu mir. Ich habe Angst, lasse meinen Bruder nicht los – Klammer mich fest an seine  Hand. Meine Gedanken schreien 'Lass mich nicht los! Lass mich nicht alleine!' Ich weiß, dass er meine Gedanken schreien hört. Ich klammer mich fest an meinen Bruder. Doch Papa ist stärker. Er zerschlägt unsere Hände einfach – nimmt mich auf seinen Arm. Aber ich will das nicht.  Verzweifelt versuche ich wieder nach der Hand meines Bruders zu greifen. Wieder schreien meine  Gedanken. Ich weine, ich schreie. Ich will das nicht! Papa läuft weg. Zur Tür. Mit mir. Mein Bruder schaut  uns verzweifelt hinterher. Wieder fließen die Tränen entlang seiner Wangen herunter. Er schreit meinen Namen hinter uns her. Er fängt an zu zittern, er weint. Er schreit Papa an, doch ich kann es nicht hören. Ich verstehe das nicht, warum höre ich seine Worte nicht mehr? Ich sehe, dass er spricht, dass er schreit. Doch ich kann ihn einfach nicht verstehen. Ich will wissen, was er sagt. Ich habe Angst. Angst, das Papa ihm etwas tun könnte. Ich will zurück, zurück zu ihm. Papa läuft einfach weiter. Läuft zur Tür hinaus. Lässt meine Bruder im Zimmer. Er zieht die Tür hinter sich zu. Hinter mir. Hinter uns. Er läuft den Flur entlang. Er lässt mich nicht los. Er läuft zum Schlafzimmer. Öffnet die Tür, geht hinein. Wir sind im Schlafzimmer. Ich habe Angst & wieder laufen mir die Tränen ins Gesicht. 'Nicht weinen, mein Engel', flüstert er mir ins Ohr. Es  fängt an. Er küsst mich, küsst mich überall. Ich will das nicht – Nicht an diesen Stellen. Meine Tränen laufen.  Sie tun mir weh. Warum? Sie brennen! Es brennt, wie Feuer. Ich will schreien, aber es geht nicht. Zu groß ist die Angst. Er zwingt mich, ihn zu küssen. Überall. Ich will das gar nicht. 'Komm schon, sei mein kleiner Engel' Ich will sein Engel sein. Ich hab ihn doch lieb. Er ist mein Papa. Er legt sich auf mich. Er ist so schwer. So groß. Er wiegt so viel. Ich bekomme keine Luft mehr. Gleich ist es soweit. Gleich kommt der Schmerz. Gleich tut es wieder weh. Ihm macht es Spaß, mich so zu sehen. Ich sehe es in seinen funkelnden Augen. Er küsst mich – Immer wieder. Hoppa, Hoppa, Reiter – Auf & Ab. So geht es immer. Immer & immer wieder. Früher mochte ich das Spiel. Früher, als er das noch nicht tat. Damals machte es MIR Spaß. Jetzt hasse ich dieses Spiel – Ich spiele es überhaupt nicht mehr. Er macht komische, ekelhafte Geräusche. Der Schmerz wird doller. Ich will sterben. Sterben an diesem Schmerz. Er kommt schneller & schneller. Er wird immer doller. Ich weiß es – Bald ist es vorbei. In meinen Gedanken schreie ich wieder. Ich will zu meinem Bruder.  Er hört mich – Ich weiß es. Das passt doch nicht zusammen – Er ist groß & stark, ich bin klein & zerbrechlich. Ich muss still sein. Papa hat mir oft gesagt, das sei normal. Er ist doch schon alt & erwachsen. Er muss es ja wissen. Ich muss ihm glauben. - Endlich! Es ist vorbei .. Papa küsste mir die Tränen von der Wange & flüsterte lächelnd 'Du warst ein braver Engel'. Ich steh auf, renne zur Tür hinaus, direkt in das Zimmer, in dem mein Bruder immer noch verängstigt sitzt. Er weint. Er hat Angst. Angst vor seinem Papa. Ich setze mich neben ihn, schaue in seine Augen & sehe den Schmerz, den er in mir sieht – unser Schmerz. Wir wussten beide, dass es so weitergehen würde. Jeden Tag. Nichts wird sich ändern..


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